„Wir sind ein Volk!“ – ein Ruf, der vor 35 Jahren Freiheit und Hoffnung symbolisierte. Doch wer durfte sich tatsächlich in diesem „Wir“ wiederfinden? Wer hatte Grund, sich über die Wiedervereinigung zu freuen? Und wer wurde – buchstäblich über Nacht – von „unverzichtbar“ zu unsichtbar gemacht?
In den 1960er-Jahren führte der Fachkräftemangel in der DDR – ausgelöst auch durch die Abwanderung vieler Menschen in die Bundesrepublik – zu Abkommen mit verschiedenen sogenannten Bruderstaaten. Zwischen 1967 und 1986 wurden Arbeits- und Ausbildungsprogramme umgesetzt, die Migrantinnen aus Ländern wie Algerien, Angola, China, Kuba, der Mongolei, Mosambik, Polen, Ungarn und Vietnam nach Ostdeutschland brachten. Zum Zeitpunkt des Mauerfalls im November 1989 lebten mehr als 192.000 ausländische Staatsangehörige in der DDR. Die genaue Zahl der sogenannten Vertragsarbeiter*innen ist jedoch bis heute nicht abschließend erforscht.
Für migrantische und migrantisierte Communities, insbesondere die Vertragsarbeiter*innen bedeutete der Mauerfall keine Freiheit, sondern neue Unsicherheiten und existenzielle Gefährdung. Schon vor der Wiedervereinigung waren sie rassistischer Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt, doch nach dem Mauerfall wurde dieser Rassismus nicht nur fortgeführt, sondern vielerorts noch sichtbarer und brutaler. Pogrome wie in Hoyerswerda oder Rostock-Lichtenhagen rückten ins öffentliche Bewusstsein und verdeutlichen die Gewaltbereitschaft eines tief verwurzelten Rassismus, der diese Menschen weiterhin als „die Anderen“ markierte. Ihr Alltag war durch verbale und körperliche Angriffe geprägt. Dienstleistungen wurden ihnen verweigert, und in der Wahrnehmung vieler waren sie keine Kolleg*innen oder Nachbar*innen, sondern Fremdkörper und Konkurrent*innen. Ihre Geschichten, ihre Erfahrungen, ihre Beiträge zur DDR wurden ignoriert, ihre Existenz in der öffentlichen Erinnerung unsichtbar gemacht.
Vertragsarbeiter*innen erlebten systematischen Ausschluss, der sich nach der Wende noch verschärfte. Sie gehörten zu den Ersten, die ihre Arbeitsplätze verloren, als Betriebe geschlossen oder umstrukturiert wurden. Mit dem Verlust ihrer Jobs verschwand oft auch die Grundlage für ihre Unterkunft, da Wohnheime an Arbeitsverträge gekoppelt waren. Viele wurden zur Rückkehr in ihre Herkunftsländer gedrängt – teils unter Drohungen teils “versüßt” mit einer Abfindung von 3000 Mark.
Ab Dezember 1990 begannen Abschiebungen. Die Mehrheit der rund 90.000 Vertragsarbeiter* innen verlor ihre Arbeitsplätze und musste in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Aber eine Rückkehr bedeutete oft keine Verbesserung ihrer Lebensumstände. So wurde David Macau, ein Vertragsarbeiter der nach Mosambik zurückkehren musste, berichtet. Offiziell sollten Vertragsarbeiter*innen ein Teil ihres Lohns direkt und ein weiterer Teil nach der Rückkehr ausgezahlt bekommen. Diese Abmachung wurde jedoch häufig nicht eingehalten. Die DDR behielt in vielen Fällen den Lohn ein, um Mosambiks Schulden zu begleichen, oder die mosambikanische Regierung zahlte die Gelder nicht vollständig aus. Seit vielen Jahren protestieren die ehemaligen Vertragsarbeiter*innen in Maputo, um für ihr Recht auf die bis heute ausstehende Auszahlung ihrer Löhne und weiterer Ansprüche, wie zum Beispiel ihrer Rücklagen, zu kämpfen. Der Begriff „Madgermanes“ ist dabei eine Anspielung auf „Mad Germans“ („Verrückte Deutsche“) und „Made in Germany“. Aktivist*innen schätzen, dass den ehemaligen Arbeitsmigrant*innen der DDR noch eine Gesamtsumme von umgerechnet über 600 Millionen Euro zusteht.
Diejenigen, die in Deutschland blieben, sahen sich enormen Herausforderungen gegenüber. Zwar wurden ihnen in der Übergangszeit einige Rechte zugestanden, doch mussten sie in der Praxis über Jahre hinweg für soziale Absicherung und einen festen Aufenthaltsstatus kämpfen. Strukturell wurden sie benachteiligt, und rassistische Übergriffe in den frühen 1990er-Jahren verschärften ihre Lage zusätzlich. Erst 1997 wurden die ehemaligen Vertragsarbeiter*innen rechtlich den Arbeitsmigrant*innen aus der BRD gleichgestellt. Mit der Klärung ihres Aufenthaltsstatus konnten sie schließlich beginnen, sich langfristig in Deutschland niederzulassen und Städte, Kulturen und Gemeinschaften mitzugestalten.
Unsichtbar gemachte Geschichte
Die Geschichten und Gesichter der Vertragsarbeiter*innen wurden unsichtbar gemacht, indem sie aus dem „Wir“ des Volkes ausgeschlossen und abgeschoben wurden. Es ist höchste Zeit, diese Unsichtbarmachung anzuerkennen und jedes Jahr im November neu zu hinterfragen, wen und was wir meinen, wenn wir sagen: „Wir sind ein Volk.“
Ein eindrückliches Beispiel dafür liefert der Tagebuchbericht von Paulino Miguel, einem Vertragsarbeiter aus Mosambik. Sein Bericht schildert eindringlich die Erfahrungen vor, während und nach dem Mauerfall und gibt einen kritischen Einblick in die Lebensrealität jener Zeit.
Der Mauerfall vor 30 Jahren bedeutete eine gewaltvolle Zäsur für migrantisches und jüdisches Leben in Ost und West. Das Buch beinhaltet Geschichten von Bürgerrechts- und Asylkämpfen ehemaliger Gastarbeiter* in nen, von Geflüchteten in BRD und DDR, Beiträge über den Eigensinn von Vertragsarbeiter* in nen, von damaligen internationalen Studierenden, über jüdisches Leben in Ost und West sowie über die Kämpfe von Sinti und Roma im geteilten Deutschland.
Der Dokumentarfilm Bruderland ist abgebrannt stellt, die Lebensrealitäten der vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen nach dem Mauerfall dar. Die Regisseurin Angelika Nguyen folgt dem Leben von zwei Menschen, die spontan entscheiden, Berlin gemeinsam zu verlassen. Ohne Handy oder Karte machen sie sich in einem gestohlenen Lada auf den Weg nach Walachei. Dabei fängt sie den alltäglichen und systemischen Rassismus ein, der sie begleitet.
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